Nach einer erholsamen Nacht geht es heute Morgen auf die
längste Etappe. Es stehen uns 134 Kilometer und knapp 2000 Höhenmeter in
vergleichsweise einfachem Gelände bevor. Der angekündigte Regen über Nacht ist
ausgeblieben. Es sollte also ein Kinderspiel werden – jedenfalls im Vergleich
zu gestern.
Wir starten heute sehr verhalten und reihen uns nach dem
ersten Flachstück irgendwo jenseits der ersten 100 Teams ein. Es ist lange her,
dass ich so in ein Rennen gestartet bin. Wenn die Jungs hier hinten in den Ebenen
genauso drücken würden wie bergauf, dann hätten einige Leute weiter vorne
nichts mehr zu lachen. Tun sie aber eben nicht.
Nach der Startphase folgen viele hügelige Kilometer auf
ungewohnt breiten Schotterwegen. Dadurch kann ich Immanuel bergab und in der
Ebene wunderbar in den Windschatten nehmen und bergauf schieben. Auf diese
Weise sprengen wir Gruppe um Gruppe. Meinem Bruder scheint es heute gut zu
gehen. Die Betonung liegt auf scheint, wie wir bald merken werden. Zwischen der
zweiten und der dritten Verpflegung sind wir ca. bis auf Platz 30 vorgefahren.
Ungefähr 30 Kilometer vor dem Schluss kommt bei Immanuel aus heiterem Himmel
der Mann mit dem Hammer. Jetzt geht es andersrum. Alle die wir vorher überholt
haben, überholen uns wieder.
So langsam kriege ich ein schlechtes Gewissen. Der vierte
Tag und bei Immanuel gehen zum vierten Mal die Lichter aus. Böse Zungen werden
sagen, dass ich meinen jüngeren Bruder hier kaputt fahre. Das will ich
natürlich nicht. Das Problem ist, dass es mir unglaublich schwer fällt
einzuschätzen, was für Immanuel das richtige Tempo ist. Es ist der typische
Effekt von Etappenrennen im Team. Wenn einer von beiden am ersten Tag nur etwas
stärker ist, ist er am nächsten Tag besser erholt. So wird der
Leistungsunterschied zwischen den Teampartnern von Tag zu Tag größer (Ausnahmen
bestätigen die Regel; erfahrungsgemäß ist dabei aber auch oft ein guter
Apotheker im Spiel …). Das zu vermeiden ist die große Kunst. Im Grunde geht es
nur, wenn genügend Möglichkeiten zum Windschatten fahren und zum Schieben vorhanden
sind. So wie heute. Jetzt ist es allerdings zu spät dafür. Morgen müssen wir es
noch langsamer angehen. Wir werden das richtige Tempo schon noch finden. Aber es
ist ganz offensichtlich ein langwieriger Lernprozess.
An der letzten Verpflegung halten wir etwas länger an um zu
Essen. Unglaublich, es gibt hier Toast mit Marmite. Ich zähle zu dem einen
Prozent Deutschen, die das Zeug mögen. Die letzte Verpflegung ist daher ein
kleines Highlight für mich. Vor dem letzten Berg überrede ich Immanuel noch
einmal zu einer Pause. Danach geht es bei ihm wieder etwas besser und wir
kommen noch bis ins Ziel.
Die Platzierung? Keine Ahnung; sicher irgendwas um die 100
oder darüber. Das Internet hier ist so schlecht, dass ich froh bin, wenn ich
den Blog-Text durch die Leitung bekomme. Die einzige Chance dazu ist meistens
abends. Dann schlafen viele schon und der Traffic ist entsprechend gering.
Irgendwo hängen sicher auch Ergebnisse. Aber ich sitze gerade so gut hier … und
so wichtig ist unsere Platzierung dann doch nicht. Das Hauptziel heißt am
Sonntag in Lourensford anzukommen.
Die morgige Etappe? Auch keine Ahnung. Der Plan liegt im
Zelt. Aber ich sitze gerade so gut hier … und so wichtig ist es auch nicht.
Wenn wir in Lourensford ankommen wollen, müssen wir so oder so die Distanz
bewältigen.
Die kommende Nacht? Der Veranstalter hat mir ein Kärtchen in
den Startbeutel getan. Ich darf heute eine Flasche Wein am Rennbüro abholen.
Aber ich glaube, wir schlafen auch so ganz gut ein. Wobei - diese Nacht könnte
uns der Wind einen Strich durch die Rechnung machen. Die Zelte biegen sich
schon bedrohlich im Wind und gerade eben kamen ein paar Matrazen vor meiner
Nase vorbeigeflogen …